Lima, eine der trockensten Millionenstädte der Welt. Hier startet unsere Reise, die meine erste nach Südamerika ist. Mein alter Freund Gerhard ist mit einer in Deutschland lebenden Peruanerin liiert. Auf seine Frage, ob ich ihn begleiten möchte auf einer Reise nach Peru, muss ich nicht lange nachdenken. Eine Reise mit Familienanschluss. Melvins Bruder und Schwester leben in Lima, der Rest der Familie in Cusco.
Der Conquistador Francisco Pizarro González, Zerstörer der Hochkultur der Inkas, gründete die Stadt als „Ciudad de los Reyes“ und liegt seit 1541 auch hier begraben. Lima erscheint uns seltsam paranoid, teils Produkt der Erfahrung mit der Militärdiktatur, teils Ausdruck der überaus realistischen Angst der Mittelschicht, ausgeraubt zu werden. Überall gibt es Gitter, alles wird eingezäunt und Wächter wachen vor jeder noch so bescheidenen Hütte. Die Leute leben freiwillig in Käfigen. Allgegenwärtig sind die die Stadt umschließenden Slums, die meist in die Hügel hinein gebaut sind. Hier leben ca. 2,5 der knapp neun Millionen Einwohner Limas. Wir werden am hellichten Tage und mitten in der Innenstadt mehrfach von Passanten gewarnt, bestimmte Quartiere zu betreten, zu groß die Gefahr, am nächsten Tage nackt und leblos am Río Rímac, dem oft trocken liegenden Fluss der Stadt aufgefunden zu werden.
Einen wundervollen Beweis, dass oftmals etwas melancholisch wirkenden Peruaner auch richtig feiern und Spaß haben können, liefert der Besuch einer lokalen Karnevalsveranstaltung ab. Sie findet in einem kleinen Stadion nahe einer großen Favela ab. Man bezahlt einen kleinen Eintritt dafür, die bunt gekleideten Truppen bewundern zu dürfen, die sich im Rund des Stadions voller Stolz präsentieren. Viele haben alles dafür gegeben, um ihre Rolle wirkungsvoll ausfüllen zu können und lassen sich bereitwillig von mir fotografieren.
In Peru, in Peru, in den Anden, knüpfst auch Du, knüpfst auch Du Deine Banden. Nach einigen spannenden und intensiven Tagen in der Metropole geht es per Flugzeug in das ehemalige Zentrum der Inkakultur, Cusco.
Aus der Küstenregion Limas kommend, wirkt die Ankunft in der auf 3.400 m Höhe gelegenen Stadt wie ein Schock. Die Luft ist hauchdünn, die Zigaretten mögen so gar nicht schmecken und vergrößern die ohnehin schon vorhandene Atemnot. Ständig wollen irgendwelche Hügel und Steilgassen erklommen werden. Linderung bringt nur der Tee aus Kokablättern, der uns gleich als erstes von unserer Gastfamilie Callapina serviert wird. Von hier aus erkunden wir das, was die Spanier von der Inkakultur übrig gelassen haben. In Cusco selbst haben sie nahezu alles beseitigt, was noch an das alte Erbe erinnert. Auch die bunte, folkoristische Kleidung der indigenen Bevölkerung wurde einst aus Spanien eingeführt. Aber rund um Cusco liegen noch tausende Zeugnisse vergangener Zeiten, zu mächtig, zu massiv, um alles zu zerstören. Besonders beeindruckend finde ich Sacsayhuamán. Und die Reise nach Machu Picchu steht ja auch noch bevor.
Auch in Cusco erleben wir die Angst vor Übergriffen, allerdings in deutlich abgemilderter Form: auch unserer kleines, bürgerliches Quartier wird Tag und Nacht bewacht. Jeden Morgen wird man geweckt von einem Obstverkäufer, der laut „Piña, piña!“ über seinen Lautsprecher anpreist. In der großen, bunten Markthalle erhält man neben einem fantastischen Ceviche – einem traditionellen Gericht mit rohem Fisch, der durch Zitronensaft gegart wird – auch Einblick in die Welt der lachenden, schlachtenden Weiber von Cusco, die einen nachhaltigen Eindruck auf mich machen. Nicht probiert habe ich allerdings die sogenannte Chicha, ein bei den Einheimischen beliebtes „Craft Beer“ aus Mais und anderen Pflanzen, bei dem die Fermentation mit Hilfe von menschlichem Speichel eingeleitet wird.
Ein Kindheitstraum wird wahr. Als 10-jähriger Junge hatte ich, wie wahrscheinlich die meisten 10jährigen Jungs meiner Generation, einen dieser Bildbände á la „Die größten Rätsel unserer Welt“ und die großflächig bebilderten Seiten über die mysteriösen Ruinen von Machu Picchu waren sicher die, die mich am meisten faszinierten. Und so war ich hellauf begeistert, als wir uns auf den Inca Trail machten.
Am zweiten Tag geht es von 2.800 m auf 4.400 m hoch und gleich noch mal 600 Meter nach unten. Ich bin total am Ende. Ohne die drahtigen Sherpas, die Zelte, Ausrüstung und das ganze Essen schleppten und dabei in Flipflops unterwegs sind hätte ich es nicht geschafft. Am vierten Tag endlich, noch vor dem unvermeidlichen Auftauchen der restlichen Touristenmassen, die sich bequem per Bahn und Bus hierher bewegt haben, taucht des morgens die majestätische, Ehrfurcht gebietende, in eine üppige Vegetation gehüllte Ruinenanlage aus der grauen Suppe des Frühnebels auf.
Dieser Ort besitzt wirklich eine große Ausstrahlung, ja, Magie, und birgt noch so manches Rätsel. Über Jahrhunderte blieb die Stadt in den Bergen den Spaniern verborgen, und diente den verbliebenen Inkas wahrscheinlich als Rückzugsort, von dem aus sie an die zweihundert Jahre lang die Invasoren immer wieder attackierten. Die „Entdeckung“ Machu Picchus durch den National Geographic Ärcheologen Hiram Bingham ist eine Geschichte für sich: natürlich war die Anlage den letzten Indiostämmen immer bekannt gewesen, und mit der Exploration durch Bingham ging ein gigantischer Raubzug einher, zahllose Kultgegenstände von unschätzbarem Wert wurden in einer Nacht- und Nebel-Aktion außer Landes geschafft.
Eine Stadt, mitten im Dschungel. Iquitos ist mit mittlerweile 440.000 Einwohnern eine kleine Metropole am peruanischen Teil des Amazonas. Vor zwanzig Jahren lebten hier nur ein Viertel der heutigen Einwohnerschaft. Bizarr mutet an, dass die sechstgrößte Stadt Perus über kein Fernstraßen- oder Schienennetz verfügt und nur über den Wasserweg und einen kleinen Provinzflughafen erreichbar ist, über den auch wir ankommen. Mit dem Schiff kann man von hier bis in das 800 km entfernte Manaus in Brasilien fahren.
In Iquitos residieren wir in der „Casa Fitzcarralda“, zu der Zeit betrieben von Walter Saxer, der als Produktionsleiter von diversen in Peru spielenden Werner-Herzog-Filmen wie „Fitzcarraldo“ und „Aguirre, der Zorn Gottes“ die Gegend für sich entdeckte. Mittlerweile wird dieses idyllische Kleinod von Walters Tochter Micaela und ihrem Mann geführt. Das Anwesen ist camouflageartig getarnt, grenzt es doch direkt an ausgedehnte Slumviertel. Der Lärm der knatternden Tuc-Tucs und der zahllosen Sägewerke kann einem durchaus die Nachtruhe verhageln. Und doch ist es unbezahlbar, bei einem perfekt gegrillten Steak mit Walter am Pool zu sitzen und von ihm direkt zu erfahren, was für aberwitzige Eskapaden er damals mit Klaus Kinski erlebte.
Nach einem Besuch des bunten Marktes von Iquitos, in dem eine Schwindel erregende Vielzahl von Fischen, Tieren und Pflanzen des Dschungels und des großen Stromes feilgeboten werden, geht es auf eine Bootsfahrt, die über „Belen, die schwimmende Stadt“ zu einem kleinen, relativ naturnahen Ressort am Amazonas führt, der Cumaceba Lodge. Man bekommt hier die Gelegenheit, eine Menge Tiere und Menschen kennezulernen, die es hier in Zukunft so wohl nicht mehr geben wird. Eine Naturschutzstation und ein indigenes Dorf werden besucht, Piranhas mit Fleischfetzen gelockt, gefangen und verspeist. Und eine Karnevalsfeier in einem kleinen Dorf am Fluss entpuppt sich als äußerst farbenfrohe Angelegenheit. Wobei ich durchaus auf die überaus langlebige Bemalung meines Gesichtes (mit Bootslack) hätte verzichten können.